Mensch und Deutschland
Montag, 27. Juli 2009
  Ein jüdischer Mensch in Deutschland
Die Tagebücher von Willy Cohn aus den Jahren 1933–1941 Willy Cohn: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933–1941. Hrsg. von Norbert Conrads, 2 Bde. Köln u.a.: Böhlau Verlag, 2007, 1.121 S., € 59,90
„Oft schreibe ich jetzt in dieses Buch, wenn es die Zeiten überdauern sollte, wird es vielleicht späteren Generationen sagen, was ein jüdischer Mensch in dieser Zeit gelebt und gelitten hat.“ Diese Worte schrieb Willy Cohn wenige Wochen nach der „Kristallnacht“ im November 1938 in sein Tagebuch. Er selbst wurde im November 1941 mit einem Massentransport von tausend Menschen aus Breslau nach Kaunas verschleppt und vier Tage später zusammen mit seiner Frau und zwei kleinen Töch-tern im Fort IX erschossen. Wenige Tage zuvor hatte er seine umfangreichen Tage-buchnotizen und andere Manuskripte an eine Verwandte in Berlin geschickt, wo sie den Krieg überstanden und nach langer Suche in den Besitz seiner älteren Kinder in Israel gelangten. Die 59 erhaltenen Tagebuchhefte von 1933 bis kurz vor der De-portation im November 1941 sind nun erfreulicherweise mit einer fundierten und differenzierten Einführung veröffentlicht worden.
Dem Leben dieses Mannes und seiner Familie in den Jahren während des Natio-nalsozialismus im Spiegel der privaten Tagebucheinträge zu folgen ist – um es vor-weg zu sagen – überaus bewegend. Diese Aufzeichnungen sind his-torisch von au-ßergewöhnlicher Bedeutung und neben den Tagebüchern des zum Christentum übergetretenen Victor Klemperer eine einzigartige dichte Quelle der reflektierten (Innen-)Sicht eines verfolgten jüdischen Deutschen auf die Zeitgeschehnisse.
Aber wer war Willy Cohn?
Historikern ist er wegen seiner bedeutenden historischen Arbeiten zum Mittelal-ter als „Normannen-Cohn“ bekannt. Eine universitäre Karriere aber war ihm nicht möglich, und so unterrichtete er unter Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbei-ten mehr als zwanzig Jahre Geschichte, Deutsch und Erdkunde am Breslauer Jo-hannesgymnasium, dessen Schüler zu gleichen Teilen katholisch, jüdisch und pro-testantisch waren. Im Frühjahr 1933 entließen die Nazis diesen angesehenen Mann, weil er jüdisch und auch Sozialdemokrat war. Zu dieser Zeit war er gerade 44 Jahre alt und stand mit seiner zweiten Frau und vier minderjährigen Kindern plötzlich am
Ende seiner Beamtentätigkeit. Die Heimat des passionierten Tagebuchschreibers war Breslau, das die drittgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands besaß.
In seinem Tagebuch hält Willy Cohn nun fast täglich die Dinge fest, die ihn be-wegen, er teilt hier seine inneren Bedrängnisse, Sorgen und Nöte mit, schreibt sich vieles von der Seele. Er beobachtet seine „jüdische“ wie auch die „arische“ Umge-bung genau und reflektiert das Weltgeschehen. „Die Aussprache mit diesem Buch gibt mir Kraft und Ruhe.“ (3.5.1937) Oder: „Es ist für mich eine Erleichterung, dies diesem Buche anzuvertrauen, denn ich fühle mich oft sehr einsam.“ (9.1.1939) Aber nicht nur um ihn oder die Sorgen um seine Kinder geht es, vielmehr notiert er auch vieles über Menschen seiner Umgebung, denen er begegnet, an deren Sorgen er großen inneren Anteil nimmt und die ihm zu Herzen gehen. Besonders an den Schicksalen der jungen Menschen ist er – Pädagoge durch und durch – emphatisch interessiert.
 
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